tabula_rasa

Text: H. Müller + F.T. Marinetti -Konzept/Darstellung: Zeha Schröder -Ort: Zeche Westphalen, Ahlen -Dauer: ca. 60 Minuten - Uraufführung: 05.06.2008
Zum zwanzigjährigen Bestehen des Kunstvereins Ahlen entstand diese Collage von Zeha Schröder, die ursprünglich als einmaliges Event an wenigen Tagen im Juni 08 geplant war. Der große Erfolg dieser radikalen Performance hat eine Wiederaufnahme in der Spielzeit 08/09 nahegelegt, nein, fast schon nötig gemacht.

Schröder (der dieses Konzept nicht mit F+G, sondern über sein Performancelabel mime.se realisiert hat) verquickt zwei kompromisslose Texte, die so unterschiedlich wie wesensverwandt sind, zu einer einzigen wütenden Absage an die kulturelle Gemütlichkeit. F.T. Marinettis legendäres „Futuristisches Manifest" (1909) und Heiner Müllers bahnbrechende „Hamletmaschine“ von 1977 formulieren beide in wuchtigen, kantigen Worten den Bruch der Söhne mit ihren Vätern. Wo Müllers Hamlet den väterlichen Sarg aufbricht und „den toten Erzeuger an die umstehenden Elendsgestalten verteilt“, möchte Marinetti auf seinem Weg zu den Sternen am liebsten die gesamte abendländische Tradition absprengen wie ein ausgebranntes Raketentriebwerk: „Wir wollen die Bibliotheken, Museen und Akademien zerstören! Wir wollen von der Vergangenheit nichts wissen!“

Das klingt zunächst wie schwere, gedankenschwere Theaterkost. Dass „tabula_rasa“ stattdessen wie ein sehr saftiges, blutiges Theatersteak mundet, liegt an einem aberwitzigen Kunstgriff des Bearbeiters: Zeha Schröder begreift den Text aus dem Körper heraus, bespielt die riesige Maschinenhalle der Ahlener Zeche wie ein erlegtes Untier, auf dem er herumklettert, erklimmt das gewaltige stählerne Förderrad und stürzt sich an Eisenketten von meterhohen Balustraden. Theater ohne Netz und doppelten Boden, untermalt mit morbiden Klängen und trügerisch schönen Gesängen.

So entfaltet „tabula_rasa“ eine große emotionale Kraft, eine Wucht der Auflehnung, die auch deutlich macht, warum diese beiden Texte, die so stark ihrer Zeit verhaftet scheinen, auch heute noch so aktuell und atemberaubend spannend sind: weil sich hinter all dem Protest und all der Wut auf „die Väter“ auch eine große, unersättliche, verzweifelte Liebe zu ihnen verschanzt.

Klingt vertraut, oder?