Ich, Jekyll

Text: Zeha Schröder, angelehnt an R. L. Stevenson u. J. Unterweger - Mit: Marcell Kaiser - Regie: Jan-Christoph Tonigs - Ort: Anatom. Hörsaal, Vesaliusweg 2 - Dauer: 75 Min. - Uraufführung: 29.03.2006
Vom Unabomber bis zum Romeo hat Marcell Kaiser ein gutes Dutzend Rollen für Freuynde + Gaesdte verkörpert - mehr als jeder andere. Die großen Charakterstudien aber, die Totmacher, Kasparhausers und Reemtsmas, hatte er bis zum Frühjahr 2006 anderen überlassen.

Das sollte sich ändern, und sein lang erwartetes erstes Solo hatte es gleich in sich. Denn der Text, den ihm F+G-Gründer Zeha Schröder im „lappländischen Exil“ auf den wuchtigen Leib geschrieben hat, verknüpft den Plot von R.L. Stevensons Schauerroman "Dr. Jekyll & Mr. Hyde" mit den (inzwischen aus dem Buchhandel verbannten) Memoiren des österreichischen Serienmörders Jack Unterweger zum beklemmenden Porträt eines zerrissenen Charakters. Und eines kann man unterstellen: Für das Publikum war Kaisers "Hyde" garantiert niemand, dem man im Dunkeln begegnen mochte...

Stevensons Gruselgeschichte über den besessenen Wissenschaftler, der allzu leichtfertig mit der moralischen Doppelnatur des Menschen herumexperimentiert, ist hinlänglich bekannt. Ergänzt und aktualisiert wurde dieser Klassiker durch die Autobiographie von Jack Unterweger, der 1976 wegen Mordes an einer Prostituierten zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Im Gefängnis fing er an zu schreiben; 1990 wurde er - nicht zuletzt wegen seiner schriftstellerischen Karriere - begnadigt, galt als Musterbeispiel des "Resozialisierten" und Schickerialiebling, wurde jedoch binnen eines Jahres rückfällig und brachte elf Prostituierte um. Unterweger schildert in seinem autobiografischen Roman „Fegefeuer“ nicht nur den Werdegang eines Kriminellen, sondern gibt unverstellte Einblicke in eine von Hass und Wut geprägte Gefühlswelt, die sich immer wieder ungehemmt entlädt.

Die Polarität von scheinbarer intellektueller Distanz und ungebändigter, manischer Emotionalität prägt “Ich, Jekyll“: ein Solostück als schonungslose Abrechnung mit dem eigenen Ich. Die Videokamera, die Jekyll (Hyde?) zu Dokumentationszwecken aufstellt, wird zum neutralen Zeugen eines Duells, in dem der Schauspieler den Krieg zweier Persönlichkeiten in einunddemselben Körper ausficht.

Regisseur Jan-Christoph Tonigs, dessen Qualitäten als feinsinniger Figurenzeichner ihm gleich für seine Einstandsregie "33 Tage" eine Einladung zum renommierten Dortmunder "Theaterzwang" beschert hatten, verlegte das Geständnis des besessenen Wissenschaftlers an einen Ort, der buchstäblich dafür geschaffen war, das Skalpell an die Natur des Menschen zu legen: in den anatomischen Hörsaal der Universität. Nur, dass der behandelnde Arzt hier keine leblosen Präparate sezierte - sondern seine eigenen Abgründe. Und dies so packend, dass "Ich, Jekyll" mit rund eintausend Zuschauern zum (bis dato) erfolgreichsten F+G-Solo wurde...